Aktuelles Wissen: Ohrgeräusch (Tinnitus)

Stellen Sie sich vor, Sie sitzen zu Hause und möchten ein Buch lesen. Kaum haben Sie sich hingesetzt, stellen Sie fest: da ist ein Geräusch, ein hoher Summton, wie bei einer Störung im Fernseher. Sie suchen nach der Geräuschequelle, nach dem Gerät, das Sie ausschalten könnten. Sie finden das Gerät nicht.
Sie setzen sich wieder hin, versuchen zu lesen, das Geräusch zu ignorieren. Es gelingt Ihnen nicht. Genervt verlassen Sie das Zimmer und gehen in einen anderen Raum. Das Geräusch ist immer noch da, sogar lauter als vorher. Das Geräusch verfolgt Sie, wohin Sie auch gehen, nur bei lauten Umgebungsgeräuschen geht es kurzfristig unter.

Am schlimmsten ist es abends im Bett, wenn Sie versuchen, einzuschlafen. Jetzt ist das Geräusch so laut, dass es Sie nicht einschlafen lässt. Die Anwendung von Ohrstöpseln nutzt gar nichts, im Gegenteil, Sie haben den Eindruck, das Geräusch wird dadurch sogar noch lauter.
Zunächst hoffen Sie noch, dass das Geräusch wieder vergeht, so wie es gekommen ist. Es verschwindet aber nicht. Tagsüber ist es noch erträglich, solange Sie sich irgendwie ablenken können. Kaum machen Sie eine Pause, ist es wieder da. Nach mehreren Nächten, in denenen Sie erst nach Stunden einschlafen konnten, packt Sie die Verzweiflung. Sie gehen zum Arzt.

Der Hals-Nasen-Ohren-Arzt macht eine Reihe von Untersuchungen. Er fragt Sie, auf welcher Seite Sie das Geräusch lauter hören. Das können Sie nicht sagen, denn Sie hören es einfach überall, aus keiner Richtung kommend. Er stellt fest, was Sie schon wissen, nämlich dass Sie auf beiden Ohren nicht mehr ganz so gut hören, wie früher. Nachdem auch eine Kernspintomografie Ihres Kopfes - so wie alle anderen Untersuchungen - keine Auffälligkeiten zeigt, sagt Ihnen der Arzt, dass Sie wohl an einem sogenannten "idiopathischen Tinnitus" leiden und dass es leider keine Medikamente und auch sonst keine wirklich wirksamen Therapien gibt, Sie rasch von dem quälenden Geräusch zu befreien.
Es heiße zwar "Ohrgeräusch", der Tinnitus habe jedoch nicht wirklich mit den Ohren zu tun, sondern eher mit der Hörverarbeitung im Nervensystem. Er empfiehlt Ihnen, sich deshalb auch ergänzend Rat beim Nervenarzt zu holen.

Wie kommt es zum Auftreten des "idiopathischen Tinnitus" ?

"Idiopathisch" steht in der Medizin für "ohne bekannte Ursache". Etwa 1% der Bevölkerung, also fast 1 Million Menschen in Deutschland, leiden an einem dauerhaften Ohrgeräusch ohne erkennbare Ursache.
Die neuesten Theorien zur Entstehung des Tinnitus gehen davon aus, dass bestimmte Nervenzellen der Hörbahnen im Gehirn anfangen können, von selbst aktiv zu werden, wenn sich der Reizzufluss aus den Gehörzellen des Innenohres verringert.  Dies kann zum Beispiel bei einer altersbedingten Hörstörung oder auch nach einer Schädigung des Innenohrs der Fall sein.
Ein ähnlicher Ablauf wird beim sogenannten Phantomschmerz vermutet. Menschen verspüren nach Amputation von Gliedmaßen noch Schmerzen in dem nicht mehr vorhandenen Bein oder Arm. Die dafür verantwortliche, spontan entstehende Aktivität von Hirnzellen tritt dann auf, wenn die "echten" Nerveninformationen fehlen oder zu schwach sind.

Ängste und eine depressive Verstimmung des Patienten, entweder schon vorher vorhanden oder erst durch den Tinnitus ausgelöst, können dann das Nervensystem ganz allgemein zusätzlich sensibilisieren. Das Ohrgeräusch wird dadurch subjektiv immer lauter, drängt sich immer häufiger in den Wahrnehmungsvordergrund. Durch diese wechselseitige Verstärkung kann eine Eskalationsspirale entstehen, die den Tinnitus für die/den Betroffene(n) schließlich unerträglich werden lässt.

Wie kann man den Tinnitus behandeln ?

Es gibt tatsächlich keine Medikamente, die den Tinnitus auf die Schnelle beseitigen können. Stattdessen muss vor allem die oben genannte, emotionale Eskalationsspirale zurück gedreht werden.
Jeder weiß, dass etwas, das uns stört - zum Beispiel das Surren einer Mücke - von uns sehr viel lauter und störender wahrgenommen wird als zum Beispiel der (eigentlich sehr viel lautere) Geräuschpegel in einem Restaurant, in dem wir uns wohl fühlen. Es kommt also entscheidend darauf an, wie wir mit dem betreffenden Geräusch umgehen und was es bei uns auslöst.
Manche Leute wohnen neben einer Bahnstrecke und nehmen das Geräusch der regelmäßig vorbei fahrenden Züge bewusst kaum mehr wahr. Unser Bewusstsein konzentriert sich auf subjektiv Wichtiges, alles was wir - ganz unbewusst - als unwichtig einordnen, fällt uns kaum mehr auf.

Man kann also lernen, mit einem Störgeräusch anders umzugehen, sich abzulenken, es zu verdrängen, sich daran zu gewöhnen oder auch es zu akzeptieren und nicht mehr als Bedrohung wahrzunehmen, schließlich sogar, es zu "vergessen".
Sämtliche wirksamen Behandlungsverfahren konzentrieren sich darauf, diesen Gewöhnungsprozess zu fördern.

Hilfreich ist oft schon die Erkenntnis, nicht alleine zu sein. Der Austausch mit anderen Betroffenen kann Ängste abbauen, zusätzliche Informationen und auch wieder Hoffnung vermitteln (z.B. über die Selbsthilfeorganisation "Deutsche Tinnitus-Liga" (DTL) und deren Verbandszeitschrift „Tinnitus-Forum“). Helfen, können auch ganz praktische Ratschläge, wie z.B. das Ohrgeräusch bei leiser Umgebung zu übertönen, etwa durch einen Kissenlautsprecher mit leiser, beruhigender Musik.
Ängste und depressive Verstimmungen lassen sich auch mit Medikamenten gut bessern. Sollte dies nicht ausreichen, gibt es auch professionelle Hilfe in Form der sogenannten "kognitiven Verhaltenstherapie", einer ganz Alltags-praktischen Form der Psychotherapie.

Tinnitus ist also  nicht unheilbar - ganz im Gegenteil. Allerdings kann die Behandlung etwas dauern und man muss sich auf sie einlassen. Sprechen Sie als Betroffener hierzu mit einem Nervenarzt oder Neurologen, er wird sie ausführlich beraten.

Zu warnen ist dagegen vor marktschreierisch im Internet oder anderen Medien als hochwirksam angepriesenen Heilmethoden, die von Ihnen selbst (oft teuer !) bezahlt werden müssen. Meist kommen dabei "Patienten" zu Wort, die sich begeistert darüber äußern, wie gut wirksam das Mittel bei ihnen war.
Die Psyche spielt beim Tinnitus eine große Rolle, deshalb kann alleine die anfänglich große, zuversichtliche Erwartungshaltung schon oft zu einer vorübergehenden Besserung führen. Fast immer helfen jedoch diese Therapien auf Dauer dann nur demjenigen, der sie Ihnen verkauft. Die unvermeidliche Enttäuschung und auch der Tinnitus sind danach dann für die Betroffenen umso schlimmer.

2 Gedanken zu “Aktuelles Wissen: Ohrgeräusch (Tinnitus)

  1. Anonymous

    Welcher Arzt im Chiemgau wäre bei Tinitus zuständig?
    Ohrenärzte bereits aufgesucht, ohne Erfolg.
    Lebensqualität stark beeinträchtig, zu wenig Schlaf

    Antwort
    1. Beitragsautor

      Leider können wir keine konkreten Ärzte-Empfehlungen geben. Da Sie eine starke Beeinträchtigung Ihrer Lebensqualität und Schlafstörungen angeben, würde ich Ihnen empfehlen, sich bei einem Nervenarzt oder Neurologen in Ihrer Umgebung zur weiteren Beratung vorzustellen.
      Dr. Richard Ippisch

      Antwort

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